20.09.2024

04.08.2024 Der Traum und das Versprechen

Vor einigen Tagen hatte ich einen Traum, in dem ich ein starkes Bedürfnis verspürte, dich anzurufen. Innerlich war ich voller Ungeduld, und es durfte keinen Aufschub geben. Ich erinnere mich noch gut an meine Gefühle während des Traum-Telefonats. Die Resonanz war, dass ich immer lauter in unserem Gespräch wurde. Die Verzweiflung wuchs, und auch meine Bitte wurde immer dringlicher, dass du mir doch endlich zuhören würdest. Ich war in Sorge um dich und wollte dich davon überzeugen, dass du nicht alleine leben solltest. Der Umstand, dass die Kommunikation mit dir schon oft kompliziert war, wurde mir durch den Traum wieder sehr bewusst. Noch als Vati auf der Intensivstation lag und wir wussten, dass wir Alle nun Abschied nehmen müssen, hast du niemanden mehr an dich herangelassen. Obwohl du stark in deiner Gehfähigkeit eingeschränkt warst und auf einen Rollator angewiesen, bist du die 40 km in die Klinik, wo Vater lag, lieber mit dem Taxi gefahren, obwohl wir Kinder es dir mehrmals angeboten hatten, mit uns zusammen zu fahren. Auch hast du von Anfang an nicht kooperiert, als die Ärzte mich am ersten Tag nach dem Schlaganfall baten, Vaters persönliche Utensilien, wie z.B. Fotos oder seinen Lieblingsduft, mitzubringen, die ihm eventuell das Aufwachen aus dem Koma erleichtert hätten. Du hast mir verboten, zu dir zu kommen, mit der Begründung, dir ginge es nicht gut und Vater hätte gerade kein Parfüm zu Hause. In dieser Zeit haben wir trotzdem täglich miteinander telefoniert, um dich über seinen Gesundheitszustand zu informieren.

Nicht persönlich bei dir sein zu können, dir nicht helfen zu dürfen und auch keinen mütterlichen Trost zu bekommen, schmerzte mich zutiefst, zumal ich ja in dieser schweren Zeit ganz in der Nähe war, bei meinem Bruder, deinem Sohn, nur 8 km entfernt. Als nach zwei Tagen das MRT bei Papa gemacht wurde und das Ergebnis niederschmetternd war, dass es keine Chance auf ein Aufwachen aus dem Koma gab, wollte ich auch Abschied nehmen von dem Ort, an dem Vater noch wenige Tage zuvor seinem Alltag nachging. Ich musste zusehen, wo ich meine 4-jährige Sissi unterbringe, während ich bei ihm im Krankenhaus war. Du wolltest die zwei Stunden, als ich bei ihm im Krankenhaus sein wollte, nicht auf sie aufpassen. Auch hast du uns die Tür vor der Nase zugemacht, als wir uns zufällig vor eurer Haustür begegneten, als ich nochmals euer Zuhause und Vaters Auto davor sehen wollte, so als wenn er doch jeden Moment zurückkommen würde.

Durch dein Handeln fühlte ich mich sehr verletzt. Auch ein erneutes Klopfen und Anflehen unter meinen Tränen ließ dich nicht erweichen, auch nicht der Umstand, dass deine kleine Enkelin Zeugin dieses Spektakels wurde. Völlig geschockt sind wir weggegangen. Dein Verhalten hat mich fassungslos gemacht. Es gab mir viel Raum für Spekulationen. In vielen Punkten sollte ich Recht behalten.

Auf seinem Sterbebett habe ich Vati ein Versprechen gegeben, ohne dass er es hätte verlangen können. Ich hatte dennoch das Gefühl, dass er es hören wollte, damit er beruhigter von dieser Welt gehen könne. Ich habe ihm mein Wort gegeben, dass ich mich um dich kümmern werde, wenn du mich lässt.

Es sollte noch 2,5 Jahre dauern, bis du zu ihm gegangen bist. Dein Tod und die Umstände, dass wir uns seit dieser Zeit, als Vati starb, nicht mehr gesehen haben, führen mir immer wieder vor Augen, dass ich mein Versprechen Papa gegenüber nicht eingehalten habe. Nicht, dass ich es nicht wollte und auch nicht versucht hätte, aber die Art und Weise, wie du mich auf Distanz gehalten hast, hat mich auf der ganzen Linie verlieren lassen. Warum habe ich mich von meinem Bauchgefühl abbringen lassen? Ich hatte so viel in der Hand. Dein zu frühes Ende hätte kein Ende sein müssen. Hättest du nur mehr auf mich gehört und meine Hilfe nicht als Bedrohung wahrgenommen. Aber das waren womöglich deine inneren Geister, die du nie hattest wahrhaben wollen?

Vielleicht habe ich zu früh aufgegeben. Zu stark waren meine Verletzungen, die du mir mit deinen Worten schon viele Jahre zuvor zugefügt hattest. Mag sein, dass du es nicht beabsichtigt hattest. Auch diese Reife und Distanz musste ich erstmal erlangen, um für dich mehr Verständnis aufzubringen. Heute bin ich dir nicht mehr böse. Meine Empathie dir gegenüber habe ich wieder erlangt. Womöglich hast du so gehandelt, um dich zu schützen. Deine Gedanken waren eingenommen vom Irrglauben, dass wir Kinder nichts Gutes mit dir im Schilde führen würden. Vielleicht war deine Angst groß, in ein Heim abgeschoben zu werden. Dort hättest du niemals das Leben führen können, mit den Ausmaßen, von denen wir zwar ahnten, dass es die gibt, aber dessen Dimensionen uns erst nach deinem Ableben mehr als erschüttern würden.

Norwegen 6.8.2003

Klinik Bethel, Bielefeld 23.11.2020.

02.07.24      Das letzte freudige Wiedersehen

Als mein Vater 70 wurde, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Plötzlich wurde mir mit Erstaunen bewusst, dass dies ein Alter ist, in dem so vieles passieren kann, wo gesundheitlich alles schnell bergab gehen könnte. Mein Vater war immer gesund gewesen. Abgesehen von gelegentlichen Erkältungen und Blasenentzündungen nach nächtlichen Angelausflügen, war er nur zwei Mal im Krankenhaus – wegen Weisheitszähnen und einer Polypenentfernung. Und doch ist er schon in seinen jungen Jahren nur knapp dem Tode entkommen. Da war er noch ein junger Bergmann, als in dem Kohlebergwerk der Schacht zusammenstürzte und ihn und mehrere Kumpels verschüttete. Diese Geschichte, die meine Eltern manchmal erzählten, geschah, bevor ich geboren wurde. Mein Vater berichtete, wie stark da sein Lebenswille war, um sich in die Freiheit zu graben. Bevor er sich jedoch selbst retten wollte, versuchte er noch, seinem Freund, der auch Tadek hieß, zu helfen. Dieser flehte ihn von weitem an, zu ihm zu kommen. Mein Vater grub in beide Richtungen gleichzeitig, doch er merkte schnell, dass sein Kumpel verstummte und der Weg zu ihm unmöglich schien. Irgendwann verlor auch mein Vater das Bewusstsein. Als er zu sich kam, erfuhr er von dem Tod des jungen Kumpels. Auch wenn die Nachricht meinen Vater betroffen machte, ist er kurze Zeit später wieder in seine Bergmannskluft geschlüpft und bis zu unserer Ausreise 1989 in die BRD dem Dienst des Bergwerkstechnikers mit Stolz treu geblieben.

Warum ich hier über Vati schreibe, obwohl dieser Blog dir, liebe Mama gewidmet ist? Sein Tod hatte große Auswirkungen auf all unser Leben und die Beziehung zwischen uns Hinterbliebenen.Unser letztes Wiedersehen, der 1.8.2020, anlässlich des 9. Geburtstages deines Enkels Magnus, war besonders anders. Deine Gesundheit, Mama, lies es nicht immer zu, dass du mitreisen wolltest. Diesmal seid ihr beide gekommen und wir haben für euch am Nordostseekanal in Rendsburg, ganz fußläufig, eine schöne Ferienwohnung gefunden. Statt der gebuchten drei Übernachtungen, seid ihr nur zwei geblieben. So sehr wolltest du lieber in deinen eigenen vier Wänden sein. Schade, dass wir immer so wenig Zeit miteinander hatten. Diesmal wurde meine Enttäuschung entschädigt durch wirklich gute Gespräche, die wir an diesen Tagen hatten. Lag es eventuell mit daran, dass ich in der Küche sein wollte, um mit Stolz für euch Rouladen zuzubereiten? Es war eigentlich immer das Gericht, das ich mir gewünscht habe, wenn ich zu euch kam. Die hat stets Papa dann zubereitet, er war ja eh der Koch der Familie. Als ich das Essen für uns machte, hast du mir Gesellschaft geleistet und wir konnten uns viel unterhalten. An diesem Tag warst du in einer sehr guten Verfassung, du hattest auch keine mediale Ablenkung und hattest nur den Fokus auf mich und deine kleine Enkelin Sissi, mit der du malen konntest. Solche Aktivitäten habe ich bei dir noch nie beobachten können, auch meine Erinnerungen an meine Kindheit zeigen diese Bilder nicht.Durch das aufwendige Menü habe ich zwar wenig Zeit mit Papa verbracht, aber mit dir unvergessliche und harmonische Momente erlebt. Papa konnte in dieser Zeit mit Tomek, meinem zukünftigen Mann, Magnus und Sissi am Kanal seiner Leidenschaft nachgehen. Die Angel-Routen hatte er ja extra nur für seine Enkel eingepackt. Mit Stolz hast du das Essen sehr gelobt und erwähnt, dass ich sogar Papa übertroffen hätte.Bis zu eurer Abfahrt hatten wir nicht mehr viel Zeit. Ihr wolltet gerne die 400 km lange Reise nach Paderborn am späten Nachmittag antreten. In unserer letzten Stunde habe ich mit meiner ersten Polaroidkamera ein paar Bilder von uns Allen gemacht und gab euch ein paar davon mit.

Beim Tschüss-Sagen, ich gebe es zu, es war nicht das erste Mal, dass ich mich mit einem unbeschreiblichen Gefühl von euch verabschiedet habe. Wie schon anfangs erwähnt, ab eurer 70 wurde der Gedanke immer stärker, dass Alles vielleicht schon bald anders werden könnte.Etwas zum letzten Mal tun. Wenn wir es wüssten, dass wir Menschen, die wir lieben, zum letzten Mal verabschieden, wie schmerzhaft wäre der Moment, auch mit der Gewissheit, dass es das Schicksal so vorgesehen hat.

17.06.2024 Grüße in den Himmel

Heute ist dein Geburtstag. Er ist mir stets wichtig gewesen, auch wenn es mir in den letzten drei Jahren schwer gefallen ist es dir zu zeigen. Als ich exakt vor einem Jahr, an deinem Ehrentag, zum ersten Mal nach längerer Zeit deine Wohnung betreten durfte, haben wir uns verpasst, denn du musstest am 13.06.2023 gehen, und zwar, für immer. Wie sehr hoffe ich, dass du in Frieden gegangen bist. Vieles ist missverständlich gewesen. Deine Liebe zu mir kann ich jetzt erst wahrnehmen. Und sie tut mir so gut und gibt mir Kraft. Wie gerne wäre ich für Dich da gewesen, doch du hast es nicht zugelassen. Erst am 17.06.2023 habe ich die Gründe dafür erfahren.

Wie gut kann ich mich noch an unser Fotoshooting erinnern, in meinem zweiten Ausbildungsjahr, sehr lange ist es her. Wir allein in einem Werbestudio, inmitten von Schrankwänden. In dieser Zeit standen wir uns sehr nahe. Du warst für jeden Spaß zu haben. Danke, Mama.